Phil ist 40 Jahre alt, Vater eines Sohnes und leidenschaftlicher Sportkletterer. Er klettert stark – auf internationaler Ebene. Und er hat eine ganz spezielle Beziehung zum Klettern. Denn der Sport hat sein Leben gerettet.

Aber von vorn: Mit 14 Jahren hat Phil Blut geleckt, durch Zufall. Ein Ruderkollege hat ihn erstmals zum Klettern mit an den Fels genommen – „und dann hat’s mich gepackt“. Was ihn so packte? „Klettern war ganz anders als das Wettkampfrudern, losgelöst von jedem Trainer, von jeder Ansage. Man macht einfach sein Ding.“ Das hat er gemacht. Gemeinsam mit seinem Zwillingbruder trainierte er wie ein Verrückter, sodass sie zwei Jahre später bereits im 10. Grad (UIAA) kletterten.

Aber dann kam der Unfall, der sein ganzes Leben veränderte

17. September 2016: „Wir waren auf dem Rückweg von Ikea. Es war Starkregen, richtig viel Aquaplaning. Ich bin gefahren, meine Freundin saß neben mir. In einer Linkskurve ist mir der Wagen dann ausgebrochen – ziemlich schnell, ziemlich stark – und wir sind von einem entgegenkommenden Fahrzeug gerammt worden. Direkt in die Fahrerseite rein. Meine Freundin dachte, ich sei tot.

Tot war er glücklicherweise nicht

Aber es begann die schwerste Zeit seines Lebens – obwohl er rein äußerlich außer einem kleinen Kratzer über dem Auge keine Verletzungen davontrug. Es folgte zunächst eine knappe Woche Koma, die die Angehörigen bang zurückließ: Wie geht es weiter? „Die Querschnittslähmung war eigentlich gewiss. Mein Vater war schon dabei, nach einem barrierefreien Haus zu suchen.“

Nichts mehr ist, wie es war

Obwohl er nicht querschnittsgelähmt ist, ist seitdem nichts mehr, wie es war. Direkt vom Krankenhaus ging es in die Reha, für rund dreieinhalb Monate. Es hieß, ganz von vorn anzufangen: „Ich konnte eigentlich gar nichts mehr, nicht gehen, nicht reden, nicht essen.“ Die Hauptdiagnose war „Schädel-Hirntrauma mit Blutung im Stammhirn“. Phil hatte Bewusstseinsstörungen, eine Augenmuskellähmung sowie starke Zerrungen und Nervenabrisse im Armplexus. Sein rechter Arm war ein ganzes Jahr lang komplett gelähmt. Die lädierten Hirn- und Spinalnerven, die den Rumpf ansteuern, hatten eine Schwächung aller Extremitäten zur Folge. Hinzu kam eine Disphonie, Phil konnte nicht reden, nicht schreiben, konnte nichts mitteilen, kaum denken. „Das war alles zu anstrengend. Ich konnte nur bei mir sein und mein Ding machen.“

Bester Patient

Um Weihnachten 2016 kam er aus der Reha – austherapiert, als bester Patient. Dennoch: „Klettern war immer noch unmöglich für mich.“ Der rechte Arm ließ sich nicht beugen, alle Extremitäten waren ohne Muskulatur „total dünn geworden“. Im Kinderboulderraum machte er erste Versuche an der Wand – und irritierte alle, die er zuvor gekannt hatte. „Man hat mir ja nichts angesehen. Viele haben mich angesprochen und gefragt, was los sei. Das war für mich wie ein Schlag ins Gesicht! Das machte mir klar, wo ich war vor dem Unfall und wo ich jetzt stand.“

Nächste Lektion: Alltag bewältigen

Aber es hieß nun ohnehin erstmal wieder, den Alltag auf die Reihe zu bekommen: Zähneputzen, gehen lernen, schreiben lernen, eine Kaffeetasse tragen… All die alltäglichen Dinge. „Die Rückkehr ins wirkliche Leben war anfangs wirklich schwer handlebar für mich – aufgrund meiner akuten Hirnschädigung war sogar Busfahren eine Herausforderung, weil ich mich sehr schlecht orientieren konnte.”

Als irgendwann auch die Reha in der Tagesklinik abgeschlossen war und er im Rahmen einer Wiedereingliederung zurück ins Berufsleben durfte, ging ein altes aber dennoch absolut neues Alltagsleben los: „Die Arbeiten hatten sich verändert, Prozesse sind weiter gelaufen und so musste ich mich erst wieder einarbeiten – zusätzlich zu erschöpfenden Therapien, alltäglichen Lebensaufgaben und meiner weiteren Genesung.”

Aber das Klettern war sein täglicher Motor, bald konnte Phil sein Training wieder intensivieren. „Das war meine Therapie daheim. Ich habe trainiert, war motiviert voranzukommen, nie zufrieden mit dem Status quo.“ Nebenbei absolvierte er Logopädie, Physiotherapie, Ergotherapie. Natürlich standen mehrere OPs an, an den Augen, den Hüften, den Schultern. Aber sein starker Wille und das Klettern waren die wichtigsten Bausteine auf seinem Weg zurück ins Leben.

Großer Einschnitt: Vaterfreuden

Ein weiterer intensiver und „mit Sicherheit der glücklichste Moment überhaupt” war 2019 die Geburt seines Sohnes Emil. „Zu der Zeit hatte ich einen neuen Job mit 20 Wochenarbeitsstunden und konnte mir die Zeit frei einteilen.” Somit konnte er zu Hause auffangen, was seine Freundin Carina berufsbedingt nicht leisten konnte. „Es war eine reine Organisationsaufgabe!” Aber er möchte diese viele Zeit mit seinem Sohn nicht missen – auch wenn diese wieder neue Schwierigkeiten mit sich brachte: „Ich konnte nicht am Boden rumkrabbeln und mit Emil auf dem Arm Treppen laufen war anfangs nahezu unmöglich.”

Mittlerweile ist das Vatersein anders geworden. „Ich muss nicht mehr wickeln oder mit einer Trage durch die Welt laufen. Jetzt ist die Herausforderung, beim gemeinsamen Fußballspielen den Ball sauber zu treffen und sicher auf einem Bein zu stehen!”

Heute ist Phil zu 50 Prozent schwerbehindert. Mit zwei künstlichen Hüften braucht er jeden Morgen Zeit zum „Warmlaufen“. Seine Schultern versteifen immer mehr. Die Muskulatur ist nicht mehr so kräftig, wie sie einst war, die Nerven reagieren sehr langsam. Auch sein Sehvermögen ist noch beeinträchtigt: „Extreme Winkel funktionieren nach wie vor nicht.“ Phil braucht Tricks, um durch den Tag zu kommen – wie auch beim Klettern: „Ich habe zum Beispiel rausgefunden, dass der scharfe Tritt von zwei Tritten der richtige ist.“

Viele Einschränkungen

Hinzu kommen neurologische Einschränkungen: Phils Konzentration und Belastbarkeit ist sehr begrenzt. Manches bleibt und wird nie besser werden, aber insgesamt ist der 40-Jährige mit sich im Reinen: „Ich habe jedes Jahr Fortschritte gemacht. Jetzt immer noch. Ich habe schon das Ziel, wieder einmal eine Tour im 10. Grad zu klettern. Ich will mir das beweisen.“ Und so weit ist der Zehner gar nicht mehr weg: Im 9. Grad ist Phil bereits wieder unterwegs – und was er auf diesem Weg mental und körperlich durchgemacht hat, hätten nicht viele geschafft.

Stark im Nationalteam

Nach wie vor klettert Phil am liebsten mit seinem Bruder am Fels, ist inzwischen aber auch ein begeistertes Mitglied im deutschen Paraclimbing-Nationalkader – und das, wo er früher mit Plastikgriffen so gar nichts anzufangen wusste. 2018 wurde er zum Teamtraining eingeladen. Noch im selben Jahr belegte er einen zweiten Platz bei seinem ersten internationalen Wettkampf. Auch dadurch hat er neue Trainingsziele gefunden, die ihn immer weitermachen lassen. „Ich konnte vor vier Jahren keine Sekunde an einer Leiste hängen – heute mache ich daran wieder Klimmzüge. Solche Ziele mögen für andere schwachsinnig erscheinen, mich motiviert so etwas total.“

Siegen steht nicht an erster Stelle

Phil ist ehrgeizig. Aber Siegen steht für ihn im Para-Team nicht an erster Stelle: „Paraclimbing im Team ist ein Mitteilungsort, da verstehen alle alles.“ Er ist unter Gleichen, alle haben ihr Päckchen zu tragen. Hier stößt er auf Verständnis, das er in seinem sozialen Umfeld so nicht findet – und auch gar nicht finden will. „Keiner kann in mich reinschlüpfen. Und das ist gut so.“

Training ohne Ende – für ein möglichst normales Leben

Ohne Training geht aber auch sechs Jahre nach dem Unfall gar nichts. Dabei trainiert er weniger fürs Team, als vielmehr für sich, „damit es nicht abwärts, sondern weiter aufwärts geht“. Jeden Tag ist er zu Hause an Griffbrett, Hanteln, Hangelgestänge oder Trainingswand. Wenn möglich, fährt er einmal pro Woche raus an den Fels – „zum Spaß haben, Energie sammeln“. So oft es geht konsultiert er zudem die DAV Sparkassen Bergwelt in Erlangen, wo er immer jemanden trifft, den er kennt: „Ich finde es echt schön, ich bin gerne hier.“ Die Halle sei „extrem gut und anspruchsvoll geschraubt, technisch fordernd“.

Klettern als Lebensinhalt

Somit hat sich der Stellenwert des Kletterns für ihn nicht verändert. Wohl aber die Qualität. „Klettern war schon immer mein Lebensinhalt – und bleibt es auch.“ Aber wo er zuvor ein Eigenbrötler war, zählt jetzt das Team. Schwierigkeitsgrade sind zudem weniger relevant geworden. „Ich will mich fordern, auslasten, das ist das Wichtigste. Egal wir schwer eine Route bewertet ist – für mich ist die Hauptsache, subjektiv etwas geleistet zu haben, mich stark zu fühlen.“

Das sei vielleicht auch der Hauptunterschied zwischen „Normalos“ und Parasportler*innen. Sie machen ihren Sport für sich, für niemanden sonst. Und keiner neidet dem anderen etwas. Allein deshalb sollten Parasportarten mehr Aufmerksamkeit bekommen, meint Phil. „Es ist immer noch eine Nische, aber das wird dem nicht gerecht, was dort geleistet wird: Paraclimber sind viel stärker als normale Kletterer!“

Der Sport hat Phils Leben gerettet

Phil muss es wissen. Denn ihn hat der Sport wortwörtlich gerettet. Ein Gutachterkreis hat seinen Unfall rekonstruiert und bewertet. Sein jahrzehntelanges Training, das dadurch aufgebaute Muskelkorsett, hat ihm das Leben gerettet. „Mein Neurologe in der Klinik hat mir gesagt: Ohne das Muskelkorsett am Rücken wäre ich zerbrochen, da wäre meine Wirbelsäule einfach zerplatzt.“ Wäre Phil nicht so trainiert gewesen, hätte er niemals überlebt – die Überlebenswahrscheinlichkeit bei so einem Unfall liegt bei 6 Prozent. „Oftmals denke ich: Ist das vielleicht so ein Schicksalsding? Ich habe mich echt jahrelang vorbereitet auf genau diesen Tag. So kommt es mir oft vor.“

Text: Karina Brock, Vera Goldhagen / DAV Erlangen
Fotos: Karina Brock, Andreas Klupp, Jan Virt, Nicholas Perreth