Jule ist 15 Jahre alt – bald 16 – schließt mit dem Quali gerade die erste Etappe ihrer Schullaufbahn ab und klettert leidenschaftlich gerne. „Schon als Kind bin ich überall hochgeklettert.“ Aus Ebermannstadt stammend ist der Weg in die Fränkische nicht weit und als sie klein war, gab es ja auch die Forchheimer Kletterhalle noch. „Da waren wir regelmäßig mit ihr – und natürlich draußen“, erinnert sich Mutter Janet. Durch Jule haben ihre Eltern das Klettern wieder angefangen – ein Hobby, das vorher über Jahre vernachlässigt worden war. „Das war dann so unser Familiending.“

Besorgniserregene Auffälligkeiten

Aber irgendwann bemerkten die Eltern, dass sich ihr Mädchen nicht ganz so entwickelte, wie das andere Kinder tun. Genau genommen fielen plötzlich Rückschritte auf: Jule schaffte es auf einmal nicht mehr, Pullover selbständig auszuziehen, weil sie die Arme nicht mehr über den Kopf heben konnte. Das war am Ende des ersten Schuljahres. Einige Zeit später konnte sie beim Rennen und Fangen-Spielen mit den Kindern aus ihrer Klasse nicht mehr mithalten, wurde immer langsamer.

Verdacht wurde bestätigt

DAV Erlangen | Parasportgruppe | Signalstein 2023 | Jule Breuning | Foto: Jörg Breuning

Jule liebt auch echten Fels: Hier mit der Parasportgruppe in der Fränkischen Schweiz.               Foto: Jörg Breuning

Selbst Physiotherapeutin fing Janet an, alles aufzuschreiben und die Symptome zu googeln. „Und dann sind wir quasi mit einer fertigen Diagnose in die Kinderklinik.“ Dort bestätigte sich der Verdacht: Muskelschwund, Fachbegriff Fazioskapulohumerale Muskeldystrophie Typ 1. Hinter diesem sperrigen Begriff verbirgt sich die Degeneration von Muskelmasse. In einem gesunden Körper sterben permanent Zellen ab – auch Muskelzellen – und werden neu gebildet. In Jules Körper ist das nicht der Fall. Es sterben Zellen ab, aber die neuen reifen nicht aus. „Wenn eine kaputt ist, ist sie kaputt“, erklärt die Teenagerin lapidar. Da Muskeln das Korsett des kompletten Körpers sind, führt dieser Gendefekt im Verlauf der Krankheit zu Muskelschwächen in fast allen Körperregionen, wirkt sich auf Mimik, Rumpfstabilität, Gleichgewicht aus, eben alles, wofür Muskeln gebraucht werden.

Heilbar ist Muskelschwund nicht

Die Diagnose kam kurz vor Jules 8. Geburtstag „und war ein Schock für uns“, so die Mutter. Seitdem sind acht Jahre vergangen, die Krankheit nimmt ihren Lauf. Medikamente und Übungen behandeln die Symptome, sollen das Fortschreiten verzögern. Heilbar ist Muskelschwund nicht.

Aber mit dem Klettern aufzuhören, kam für Jule nie in Frage. Warum auch? „Sport kann helfen, den Verlauf zu verzögern“, ist sich die 15-Jährige sicher. Außerdem liebt sie es, sich zu fordern, ihren Körper zu spüren und zu erfahren, was alles trotz Einschränkungen möglich ist. „Ich will weiterkommen, mich verbessern – auch wenn es mal schlechte Tage gibt, an denen alles schwerfällt und ich mir alles sehr zu Herzen nehme.“ Wichtig ist beim Training, dass sie sich nie überfordert. Denn es gilt, einen Muskelkater unbedingt zu vermeiden. „Dabei werden Muskelzellen zerstört, die sich anschließend an selber Stelle neu und stärker bilden – in einem gesunden Körper“, erklärt Mutter Janet. Bei Menschen mit Muskeldystrophie findet diese Neubildung aber eben nicht statt. Das heißt: Moderates Training, zusätzlich Physiotherapie.

Bei den Imst Masters hat Jule das Wettkampffieber gepackt

Sportliche Heimat beim DAV Erlangen gefunden

Seit es die Parasportgruppe im DAV Erlangen gibt, hat Jule hier ihre sportliche Heimat gefunden. „Eigentlich wollte ich am Anfang gar nicht hin. Da waren zu viele Leute, das stresst mich.“ Als sie sich aber entschloss, ihre Abschlussarbeit über Paraclimbing zu schreiben, drängte sie ihr Mentor Kevin Bartke, DAV-Paraclimber aus Fürth und Mitglied der Paraclimbing-Nationalmannschaft, sich die Gruppe doch mal anzusehen. Also ging Jule zu einem der regelmäßigen Kletter-Treffs in der DAV Sparkassen Bergwelt. „Naja und dann hat es doch Spaß gemacht.“ Das Großartige an der Gruppe sei, dass man einfach angenommen wird. „Keiner schaut doof, keiner fragt, man wird einfach verstanden, darf sein, wie man ist.“

Gemeinsam heißt nicht einsam

Inzwischen hat Jule zudem das Wettkampf-Fieber gepackt. Im Mai trat sie mit vielen weiteren deutschen Para-Athlet*innen beim Paraclimbing Master in Imst an, einem internationalen offenen Wettkampf. „Eigentlich klettere ich für mich, um mir etwas Gutes zu tun. Aber manchmal bin ich auch richtig ehrgeizig.“ Diese paar Tage in Imst waren ein unglaubliches Erlebnis für Jule. Sie sei vom Nationalteam richtiggehend adoptiert worden. „Die haben mich bemuttert wie ein kleines Küken“, erzählt sie lachend. Es sei ein schönes Miteinander gewesen.

Von Idolen und krassen Typen

„Und die Erfahrung, wenn man als Gruppe durch die Stadt geht: Eine läuft krumm, einer ist blind, einer hat nur ein Bein, eine nur einen Arm… – man wird nicht allein blöd angeschaut. Das macht stark und gibt Geborgenheit.“

Nicht verwunderlich, dass ihre Idole ebenfalls Paraclimber sind: Auf Anhieb fallen ihr natürlich Kevin Bartke sowie Phil Hrozek und Angelino Zeller ein. „Angelino ist eine Maschine und Phil hat eine mentale Stärke, das ist unglaublich.“ Sie bewundert die beiden, weil sie wirklich unmöglich Geglaubtes möglich machen. „Sie zeigen dir: Wenn du Ziele hast und kämpfst, dann kannst du sie erreichen.“

Außerdem nennt sie Felix aus der Erlanger Parasport-Gruppe. „Das ist ein krasser Typ.“ Er ist blind und querschnittgelähmt – und klettert inzwischen trotzdem komplette Routen in der DAV Sparkassen Bergwelt. „Er hat das gewollt es und sich Stück für Stück erarbeitet. Das verdient Respekt! Außerdem fotografiert er und ist immer gut gelaunt. Das soll dem mal einer nachmachen!“

Wenn dann genau diese Idole und Teamkolleg*innen sie beim Klettern anfeuern, kann Jule das Letzte aus sich herausholen. „Das treibt einen richtig die Wand hoch.“

Sturzangst kennt Jule nicht

Zumal die 15-Jährige keinerlei Angst vor dem Stürzen hat. „Das wäre auch schlecht. Wenn ich keinen Henkel finde oder einen Griff nicht richtig gut erwische, falle ich raus. Das kann ich dann nicht halten“, erklärt sie ihre Beeinträchtigung beim Klettern. Da sie ihre Arme frei nicht über Schulterhöhe heben kann, „krabbelt“ sie mit den Fingern die Wand hoch bis zum nächsten Griff. „Der muss dann sitzen.“ Sobald sie mit einer Hand Halt hat, unterstützt die andere die Beine, zieht sie hoch, bis die Füße sauber auf den nächsten Tritten stehen. Denn auch die Beine kann sie nicht frei heben, dafür reicht die Muskulatur nicht aus. „Ich habe jetzt einen Trick: Ich schnalle mir Hundehalsbänder um die Oberschenkel. In die kann ich reingreifen und meine Füße nach oben setzen.“ Das passiert alles, während sie mit einer Hand am Griff hängt. „Sie hat eine gute Fingerkraft“, erklärt ihre Mutter. Jules Finger sind nämlich seltsamerweise nicht von der Krankheit betroffen.

Am liebsten große Henkel

DAV Erlangen | Parasportgruppe 2023 | Foto: P. Schaier

Beim Klettern in der DAV Sparkassen Bergwelt.     Foto: P. Schaier

Jules Lieblingsmoves sind daher Züge an großen Henkeln. „Da kann ich meine Stärke ausspielen – auch wenn ich total unergonomisch klettere. Aber nur so geht’s!“

Für Jule bedeutet Klettern, das Unmögliche zu versuchen, um das Mögliche zu erreichen. „Das beschreibt es ziemlich gut.“ Auch drückt der Satz die Ambivalenz aus, die sie, ein Mensch mit Muskelschwund, einem Sport gegenüber verspürt, bei dem fast jeder Muskel im Körper gefordert ist. „Ganz abgesehen von der physischen Kraft: Es ist auch mental nicht immer leicht, Unmögliches zu probieren.“

Gut für Konzentration und Selbstbewusstsein

Auf dieser Ebene profitiert die Teenagerin aber ebenfalls von ihrem Sport. „Sie ist selbstbewusster geworden“, weiß ihre Mutter. Außerdem stärkt Klettern die Konzentration, weil man sich fokussieren muss auf das, was man tut – mit Einschränkungen umso mehr. „Wenn ich nicht konzentriert bin, falle ich raus. Klettern ist Kopffreizeit, da kann man nur bei sich sein.“ Nur dann könne man auch an seine Grenzen gehen.

Hier unterscheiden sich Parasportler*innen dann auch gar nicht mehr von „Normalos“, findet Jule. „Alle haben ihre Grenzen, sie sind nur unterschiedlich geartet.“ Der große Vorteil von Paras: Sie sind oft besser darin, über ihre Grenzen hinauszuwachsen. Um Unmögliches möglich zu machen.

Weitere Infos zum Thema

Hier geht’s zur Seite unserer Parasportgruppe sowie zu weiterführende Infos zum Paraclimbing im Allgemeinen sowie zu aktuellen News rund um Paraclimbing-Wettkämpfe im Besonderen.

Text: Karina Brock / DAV Erlangen
Fotos: J. Breuning, N. Perreth, P. Schaier